29 Mai

„Wie wird ein Text deutsch?“ – Ein Dreiergespräch zwischen Karen Nölle, Alexandra Baisch und Luis Ruby

 

Man lese den Titel aufmerksam: „Wie wird ein Text deutsch?“ Er lautet nicht etwa: „Wie übersetze ich einen fremdsprachigen Text in gutes Deutsch?“ Nein, die Frage reicht weiter, nämlich wie übertrage ich einen literarischen Text so, dass daraus auch im Deutschen ein guter literarischer Text wird. Was die „gute Lesbarkeit“ meinen kann, aber auch die tradierten, jeweils unterschiedlichen Literarizitätsmerkmale. Der spezifisch literarische Sound also, um den geht es. Und um Besonderheiten, die nach besonderen Strategien verlangen. Anne Garrétas schillernder Roman Sphinx, übersetzt von Alexandra Baisch, und die Erzählungen und Romane der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector, seit geraumer Zeit übersetzt von Luis Ruby, verlangen dabei im Deutschen besondere sprachliche Gestaltungskraft, aber auch Genauigkeit.

Clarice Lispector, Anne Garréta und ein kleiner, feiner Verlag

Mehr als Anlass genug für einen Abend zur Übersetzung und den Strategien der Übersetzbarkeit dieser Texte – zugleich ein Abend zum kleinen, feinen Verlag edition fünf, dessen Programm von Karen Nölle betreut wird, die auch moderierte; und ein Gespräch zu den (Um-)Wegen, die ein Text manchmal nehmen kann. So entdeckte Nölle den bereits 1986 in Frankreich erschienenen Erstlingsroman Anne Garrétas vor zwei Jahren im Programm eines amerikanischen Kleinverlages – und las ihn begeistert in der englischen Übersetzung. Und Clarice Lispectors kurzen Text Cinco relatos e um tema (Fünf Erzählungen und ein Thema) grub sie in einer alten Nummer des Schreibhefts aus, um ihn dann Luis Ruby zur Neuübersetzung anzuvertrauen und in ihre vom weiblichen Schreiben handelnde erzählerisch-poetologische Revue Ein Haus mit vielen Zimmern aufzunehmen.

Frage an Luis Ruby: „Was war leicht, was war schwer?“ Handelt es sich doch bei Clarice Lispector um eine „schräge“ Autorin mit einem dichten Gewebe eigenständiger Bild- und Motivebenen sowie auch syntaktisch häufig ausgefallenen Wendungen, die ihre Sätze äußerst präzise komponiert und platziert. Worauf die Antwort im Gespür für die rhetorische Balance innerhalb des übersetzten Textes bestand, im richtigen Maß für die beim Lesen – im Sinne der Autorin – zumutbaren Irritationen.

 

Gut aufgeräumte Texte, Rhythmus und Relief

Um ein besseres Gespür für die stilistischen Eigenheiten eines Originals zu entwickeln, macht Karen Nölle sich vor ihren eigenen Übersetzungen gern Notizen zum Gefüge und zur Dynamik der Sätze: Sind sie alle wohlgeordnet, sozusagen gut aufgeräumt? Drängen sie nach vorne und laden sie ihr Gewicht gleich dem nächsten auf … So dass die Adäquatheit zwischen Original und Übersetzung sich von vornherein auch durch eine Entsprechung der rhythmischen Komposition definiert: syntaktische Durchgliederung oder Kürze der Sätze, Verschlankung, Markierung von Pausen, Platzierung des jeweiligen Schwerpunkts, Aussparung oder Häufung von Adjektiven. Von Karen Nölle auch als „dem Text ein Relief geben“ bezeichnet.

Eine Liebesgeschichte ohne festgelegte Geschlechter

Den Rhythmus betonte auch Alexandra Baisch, auf ihre Übersetzung und auf Anne Garrétas Roman Sphinx bezogen – rein sprachlich, aber mehr noch inhaltlich, da sich das erotische Begehren dort vor allem als Rhythmus und Bewegung, als fließendes Bild, als tastende Berührung der Körper manifestiert. Oder in seiner Umkehr als melancholische Erstarrung. Der Clou der erzählten Liebesgeschichte zwischen einem Ich und A***: es sind die Geschlechter nicht festgelegt, weder das begehrende Liebessubjekt noch das begehrte Liebesobjekt sind im Erzählverlauf durch Attribute eindeutig männlich oder weiblich konnotiert. (Wenngleich die subjektiven Projektionen – laut empirischer Bestandsaufnahme im kleinen Kreis, so Karen Nölle – offensichtlich dahingehen, dass Frauen sich eher ein schwules Männerpaar und Männer sich eher zwei lesbische Frauen imaginieren.)

Semantischer Schwebezustand

Für Alexandra Baisch bedeutete dies zunächst einmal die unbarmherzige Konfrontation mit der Tatsache, dass im Deutschen die Possessivpronomina in der dritten Person doppelt markiert sind: zusätzlich zur Angleichung an das Genus des Objekts auch noch durch das Geschlecht des Subjekts. Während im Französischen die Determinierung allein durch das grammatikalische Geschlecht des Objekts erfolgt. Wobei die deutschen Lösungen überraschend einfach und leichtfüßig wirken, so wenn aus „me retournant, je me heurtai contre son corps“ ein „als ich mich umdrehte, stieß ich an Haut“ wird. Erzählerisch gelingt es Anne Garréta stets, die Schilderungen und Szenen so auszutarieren, dass in der männlich-weiblichen Geschlechtszuschreibung ein semantischer Schwebezustand gewahrt bleibt. Mehr als um eine sprachexperimentelle Versuchsanordnung handelt es sich um ein Spiel mit den Vorstellungen und Assoziationen, die beim Lesen üblicherweise automatisch freigesetzt werden und in diesem Text kein eindeutiges Signifikat finden. Das Schimärenwesen Sphinx eben.

Bernadette Ott

Fotos: Regina Rawlinson und Edition Fünf