18 Okt

Gläsern übersetzen: Andrea O’Brien und Luis Ruby

Pünktlich zum Hieronymus-Tag am 30. September lud das MÜF seine Mitglieder und alle Interessierten ein, Übersetzer*innenarbeit unmittelbar auf der großen Leinwand zu verfolgen – und zu kommentieren. Das Veranstaltungsformat des „Gläsernen Übersetzens“ wurde schon mehrmals erfolgreich angeboten, diesmal übersetzten Andrea O’Brien und Luis Ruby nacheinander vor aller Augen eine Textstelle zum ersten Mal und ließen das Publikum an der Entscheidungsfindung teilhaben.

Jedem Anfang…

Zuerst stellte Andrea O’Brien kurz ihr neues Projekt (Maria Kuznetsova: Oksana, Behave) vor. Eine Ich-Erzählerin, zu Beginn des Romans sieben Jahre alt, erzählt mit ironischer Distanz aus der Erwachsenenperspektive die Geschichte ihrer Familie. Da es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen handelt, war die Publikumsbeteiligung entsprechend rege.

Als Textstelle hatte Andrea O‘Brien den Romananfang ausgewählt, der, wie jede Übersetzerin weiß, eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Einerseits entscheiden die ersten Seiten, egal ob im Original oder in der Übersetzung, darüber, ob der Leser überhaupt weiterliest. Zum anderen dauert es bei jeder Übersetzung (genau wie beim Schreiben des Originals) einige Zeit, bis der richtige Ton gefunden ist.

Die Übersetzerin bezog das Publikum unmittelbar in ihre Überlegungen ein. Schon die ersten drei Worte „1992, Kiew, Ukraine“ lösten eine angeregte Debatte aus: Setzt man im Deutschen die Jahreszahl nicht eher ans Ende, also „Kiew, Ukraine, 1992“? Ist die Reihenfolge „Stadt, Land“ nicht dem Amerikanischen geschuldet (Cambridge, Massachusetts), also doch „Ukraine, Kiew, 1992“? Könnte der Zusatz „Ukraine“ im Deutschen nicht gleich ganz entfallen, da er vielleicht für die amerikanische Leserschaft wichtig ist, für deutsche Leser*innen aber womöglich komisch wirkt  (wie „Paris, Frankreich“)?

… wohnt viel Arbeit inne

Da der Romananfang so entscheidend ist für die Charakterisierung der Figuren, wurden die entsprechenden Textstellen besonders ausführlich diskutiert. Im Englischen seufzt die Großmutter „philosophically“. Es kamen zahlreiche Vorschläge, darunter „abgeklärt, nachdenklich, weise“ und „wissend“. Wie befördert sie den Zigarettenrauch aus dem Autofenster? Sie „bläst, pustet, lässt entweichen“ oder „schickt den Rauch hinaus“? Als sehr hilfreich erwies sich, dass Andrea O’Brien fast alle Varianten zumindest vorübergehend übenahm, sodass diese sofort im Kontext ‚gedruckt‘ auf dem Schirm zu sehen waren, was immer wieder dazu führte, dass Vorschläge umgehend zurückgezogen wurden.

Die Großmutter versucht ihrer siebenjährigen Enkelin Amerika schmackhaft zu machen mit den Worten: „But think of all the men.“ Da die Enkelin erst sieben ist, lesen wir „but this wasn’t much of a selling point.“ Diese Textstelle trägt ganz wesentlich zu einer ersten Charakterisierung der Erzählerin bei, sodass hier ein ironisch distanzierender Tonfall notwendig ist, auch wenn die Protagonistin zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt ist.

Nach und nach entstand eine beinahe ‚fertige‘ Übersetzung, allerdings nur von einigen wenigen Zeilen. Bei diesem Arbeits’tempo‘ müssten alle Übersetzer in kürzester Zeit verhungern.

Deutliche Uneindeutigkeit

Anschließend stellte Luis Ruby sein aktuelles Projekt vor, eine Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch. Der Ich-Erzähler des Romans Cameron von Hernán Ronsino gibt Informationen nur zögerlich preis, eine Technik, die die das Übersetzen erschwert, da einerseits häufig noch nicht genug Information vorhanden ist, um Entscheidungen zu treffen, der Text aber andererseits nicht zu eindeutig werden darf.

Der Übersetzer führte anhand seines Textausschnitts sehr anschaulich vor, wie er arbeitet: Anfangs werden alle möglich erscheinenden Varianten aufgelistet, Hinzufügungen im Deutschen markiert, die Rohfassung bleibt möglichst lange offen und erst dann wird in mehreren Arbeitsgängen die optimale Lösung gefunden. Außerdem kamen Hilfsmittel wie Lexika und Synonymwörterbücher zum Einsatz. Ein Video, auf dem der Autor aus einem seiner Werke liest, half Luis Ruby zu Beginn der Übersetzungsarbeit, den richtigen Ton zu finden.

Wenn das Fieber nicht nur packt

Die Publikumsbeteiligung war ebenfalls sehr munter, wenn auch die Diskussion mangels Sprachkompetenz allgemeiner blieb. So wurde zum Beispiel darauf hingewiesen, dass in den romanischen Sprachen generell mehr Personifizierungen verwendet werden als im Deutschen. Es ist also fraglich, ob das Fieber den Erzähler nicht nur „packen“ muss, sondern ihn auch noch „unter die Decke zwingen“ („la fiebre que retorna y me tiene hundido entre las cobijas“). Auch der zweite Teil dieses Satzes („que Orsini sacó de un mueble para cubrirme.“) warf generelle Fragen auf: Da sich für ‚mueble‘ kein entsprechendes deutsches Wort finden lässt, kann die Übersetzung hier genauer werden (z.B. ‚Truhe‘) oder aber auch das Wort ganz weglassen, so dass Orsini die Decken irgendwo ‚hervorholt‘. Besonders zahlreiche Vorschläge wurden für die Übertragung der Fieberphantasien des Erzählers ins Deutsche gemacht, von denen eine ganze Reihe in die Rohübersetzung aufgenommen wurden.

Am Ende entstand ein variantenreicher Text, aus dem in einem mehrstufigen Verfahren die endgültige Übersetzung entstehen wird.

Die praktische Arbeit am Text war nicht nur anregend und sehr vergnüglich, sondern der Abend hat auch – zu meiner großen Freude – gezeigt, wie unterschiedlich Übersetzer arbeiten können. Den beiden und dem engagierten Publikum ganz herzlichen Dank!

Gloria Buschor, 2019